Dr. Karl Vötterle: „Walther Hensel ist das, was wir nicht sind“
(Ansprache in der Gedenkstunde bei den Kasseler Musiktagen 1957)*) Bei dem großen Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt findet sich das Wort: „Größe ist das, was wir nicht sind!“ Erlauben Sie mir, dieses Wort abzuwandeln und zu sagen: „Walther Hensel ist das, was wir nicht sind.“ Ich denke dabei nicht an den Volksliedsammler Walther Hensel, der mit rutengängersicherem Gefühl aus der Überlieferung und aus den Archiven Volkslieder gesammelt hat. Ich denke nicht an den ungewöhnlich sprachbegabten Gestalter, nicht an den Chorleiter und nicht an den Komponisten, sondern an Walther Hensel, der ein Feuer entzündet hat. Oder um in einem anderen Bild zu sprechen, der einem Bergwasser gleichend, aus unerfaßbaren Gründen, selbst zu einem „Singenden Quell“ wurde. Walther Hensel ist gewachsen in seiner Arbeit. Er blieb aber immer dem Ursprung verbunden.
Noch ein zweites Wort von Jacob Burckhardt bietet sich an: „Die verehrende Kraft muß so groß sein wie das zu verehrende Objekt!“ Das kraftvolle Wirken Walther Hensels ist nur zu verstehen aus seiner Hingabe an das Volkslied.
Nun, da das, was verweslich an ihm war, in die Erde gebettet ist, da die Schwierigkeiten, die er seinen Freunden im Leben bereitete und die zu seiner tragischen Isolierung führten, unwichtig geworden sind, hindert uns das „Menschliche“ nicht mehr, das große Charisma dieses Mannes zu sehen. Was verehren wir an ihm? Was war das Einmalige, das keine Nachfolge ermöglichte? Er hat eine Flamme entfacht. Umschreiten wir dieses Feuer, so zeigt sich, in welcher Vielfalt wir von dieser Flamme erwärmt und genährt worden sind. Die Besinnung auf das Volkslied, die Schöpfung der Singwoche (bei der seine erste Frau entscheidend beteiligt war) als inzwischen vieltausendfach bewährter Erziehungsform, die Einführung des Wertbegriffs beim Volkslied, die durch ihn entfachte Erneuerung der Kirchenmusik sind Teile dessen, was von diesem Manne ausging. Ohne Walther Hensel wäre ich nicht Verleger geworden. Er legte auch hier den Grund und machte den Weg zum Volkslied über den Choral zur großen Mehrstimmigkeit des 16. und 17. Jahrhunderts und zu allem anderen frei. Man kann nun sagen: „Das ist alles schön und gut. Aber rechtfertigt das zu sagen: Walther Hensel ist das, was wir nicht sind!?“ Lassen Sie uns einmal still das Lied singen, mit dem Walther Hensel die „Finkensteiner Blätter“ eröffnet hat: „Auf, du junger Wandersmann!“ Er wurde nie müde, dieses Lied mit uns zu singen. Und so wie er mit uns sang, hat er uns eingefügt in den Strom der Überlieferung, hat er uns eine große Geborgenheit geschenkt. Oder vergegenwärtigen wir uns eines der stillsten Lieder, das Walther Hensel besonders nahe stand: „Maria, Maria ging übers Gebirg“, oder das kraftvolle und hintergründige Arbeitslied „Lob und Dank, Rockengang“, mit dem das Liederbuch „Spinnerin Lobunddank“ eröffnet worden ist. Wird es da nicht deutlich, daß im Leben Walther Hensels die verehrende Kraft wuchs an dem zu verehrenden Objekt? Wie dieser Mann in unserer Zeit zu dem aus verborgenen Quellen Schöpfenden, aus dem Unterbewußten Handelnden wurde? Er war immer getragen von der Überlieferung, der er diente und für die er fast zu einem Priester wurde. Sein Wissen war nicht aus Büchern geschöpft. Er spürte aus einer Rückerinnerung heraus, was not tat. Es war ihm auch klar, daß aus der Substanz des echten Volksliedes etwas Neues wachsen mußte. Ich weiß, daß die Glaubwürdigkeit dessen, was ich hier sage, auf schwachen Füßen steht. Wir sind heute schnell dabei, von einer romantischen Verklärung zu sprechen. Ist es aber nicht so, daß auch ohne eine verehrende Kraft das Organ fehlt, das Objekt zu erkennen?
Ich hebe Walther Hensel heraus aus der Reihe all derjenigen, die in der musikalischen Erneuerungsbewegung einen geschichtlich begründeten Namen haben. Wer mit ihm in Berührung kam, hat immer wieder gespürt, daß man mit ihm nicht reden konnte wie mit einem anderen Menschen. Er lebte in einer anderen Welt. Er war vom Zauber des unwirklich Wirklichen umgeben. Das machte es so schwer, ihm menschlich nahe zu kommen. Er war nicht beherrscht von seinem Willen oder seinem Geist, sondern erfüllt von dem, was ihm zu sehen gegeben war. Er hätte nie von seinem Auftrag gesprochen. Das wäre ihm zu unbescheiden, zu diesseitig gewesen. Seine Hingabe an das zu verehrende Objekt war aber so grenzenlos, daß er uns allen nie wirklich nahe kommen konnte.
Wer das nicht gespürt hat, mag denken, das sind große Worte. Ich erinnere alle diejenigen, die unter Walther Hensel gesungen haben: er war kein eleganter, routinierter Dirigent, aber äußerst genau in Bezug auf Intonation und Rhythmus in Melos und Sprache. Außerdem war ihm die klare Vorstellung des Werkes lebendig; ihm galt sein ganzer Einsatz. Sein Zorn, sein Eifer in der Chorarbeit wird nur verständlich, wenn man versteht, wie er unter der Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und dem Bild, das ihm vor Augen stand, litt. Ein Lehrer fragte ihn einmal: „Herr Hensel, was ist eigentlich die Aufgabe des Dirigenten?“ Darauf Hensel wütend: „Zu verschwinden!“ Das bittere Wort: „Volkslied ist das Lied, das das Volk nicht singt!“ konnte nur von Walther Hensel gesprochen werden. Ich erinnere alle, die seine Angriffe gegen Dritte miterlebten: War es nicht immer so, als verteidige er das Bild dessen, was in ihm lebendig war, vor den Nur-Pädagogen oder vor den Betriebsmachern? Wie oft haben wir festgestellt, daß Walther Hensel in dieser Welt von vornherein unterlegen war!
Ich erinnere auch an den Tonsetzer Walther Hensel, der sich bescheiden von größeren Formen zurückhielt und der mit seinen Sätzen nichts anderes wollte, als dem Lied dienen. Wie oft brach er beim Erarbeiten eines Satzes in die Worte aus: „Einstimmig wäre es am schönsten! Aber das ist zu schwer für euch!“ Ist damit nicht die entscheidende, grundverschiedene Einstellung gegenüber anderen Komponisten angedeutet, für die selbstverständlich ihr Satz das Lied bereichert? Über den Komponisten Walther Hensel zu sprechen, ist hier nicht der Ort.
Es wäre noch viel zu sagen. Wir, die wir auf vielen Singwochen zu seinen Füßen saßen, haben die Aufgabe, das richtige Bild Walther Hensels weiterzugeben. Möge diese Stunde ein kleiner Beitrag dazu sein. Wenn ich dazu das Wort ergriffen und nicht Erfahrenere darum gebeten habe, so deshalb, weil ich mehr als andere aus der Begegnung mit Walther Hensel einen Antrieb gewonnen habe. Ich spiele nicht Dankbarkeit oder Bescheidenheit, wenn ich mich zu der schöpferischen und intuitiven Kraft dieses Walther Hensel bekenne. Sein Feuer hat die Flamme in mir entzündet, und alles, was ich verwirklichen konnte, geht zurück auf die Begegnung mit ihm. Menschenkraft wird immer aus der Liebe geboren. Walther Hensel hat uns in der Liebe zu dem Hintergründigen, Nichterfaßbaren in dem Strom der Überlieferung vereinigt. Wir ehren ihn nicht in der Glorifizierung seines Schaffens, sondern dadurch, daß wir die verehrende Kraft, die in ihm war, lebendig erhalten in unserem eigenen Tun.
Aus „Haus unterm Stern“, Seite 109