Walther Hensel: Sein Leben, sein Werk, seine Wirkung

Europa wächst zusammen, die Globalisierung wird auf allen Gebieten vorangetrieben, Innovation und Rationalisierung gelten als Schlüssel zum wirtschaftlichen überleben, in der Arbeitswelt und auf der Straße.gibt es nur eine Devise: Tempo.

Soll man sich unter diesen Umständen heute noch mit einem Gegenstand beschäftigen, der von Innerlichkeit geprägt ist, der manchmal Hunderte von Jahren Bestand hatte, in dem das Lebensgefühl einer bestimmten Epoche, einer bestimmten Landschaft zum Ausdruck kommt – mit dem Volkslied?

Ich bin überzeugt, man soll es tun – nicht obwohl die Dinge so liegen, wie oben skizziert, sondern weil wir heute ein Gegengewicht brauchen zu dem alles nivellierenden Zeitgeist.

Kaum ein anderer in diesem Jahrhundert hat uns den Zugang zum Volkslied besser bereitet als Walther Hensel. In diesem Vortrag soll in drei Abschnitten über seine geniale Persönlichkeit berichtet werden.

Zunächst wird das geistige Umfeld dargestellt, das Walther Hensel als jungen Menschen geprägt hat, danach sein Lebensweg und sein Lebenswerk aufgezeigt, und schließlich über die Auswirkung seiner Lebensarbeit berichtet.

Blicken wir also zunächst auf das zu Ende gehende letzte Jahrhundert zurück, die Zeit, in der Walther Hensel aufwächst.

In Europa herrscht Frieden und die Politiker sind bestrebt, das Gleichgewicht zwischen den Staaten aufrecht zu erhalten. Die Goldmark ist im Deutschen Reich eine stabile Währung, die Landwirtschaft wird durch hohe Einfuhrzölle geschützt, und auch den Arbeitern geht es in der aufblühenden Industrie allmählich besser. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn sind Industriestaaten mit wirtschaftlichem und politischem Gewicht geworden.

So stellt sich der Beginn des 20. Jahrhunderts als eine Zeit scheinbar ungetrübter Hochblüte dar.

Doch im Äußeren und im Inneren der Menschen ist vieles festgefahren. Es gibt eine strenge Gesellschaftsordnung, die die Entfaltung persönlicher Werte und Kräfte hemmt. Schon in der Schule steht das Schablonenhafte, das Sich-Unterwerfen im Vordergrund. Auch Jugendliche haben einen Anzug zu tragen, das nackte Knie erregt bereits Anstoß. – Viele Erwachsene dokumentieren nach außen moralische Grundsätze, haben diese aber in Wirklichkeit über Bord geworfen, wie wir das z.B. in den Theaterstücken von Ludwig Thoma miterleben können.

Im Baustil ist man rückwärts gewandt: Kirchen, Schulen, Turnhallen, Bahnhöfe, Industriebauten, alles wird im historisierenden Stil erstellt. In den Wohnungen hält man den oft schlimmen Kitsch in Gips und Plüsch für schön.
Da tritt 1895 in Kunst und Kunstgewerbe eine Gegenbewegung auf, der Jugendstil. Er schafft eine eigenwillige Ornamentik aus Naturformen, und er beeinflußt Bauen und Wohnkultur dadurch, daß für die Formgebung der Zweck und das Material bestimmend werden. Trotz der kurzen Zeit seines Wirkens (bis etwa 1910) markiert der Jugendstil eine echte Wende.

Auch auf geistigem und kulturellem Gebiet zeichnet sich eine Auflehnung gegen alles Unechte und Erstarrte ab, die Jugendbewegung. Als ihr Beginn gilt die Gründung des Wandervogels im November 1891 in Berlin-Steglitz. Seine Ideen breiten sich schnell im gesamten deutschen Kulturraum aus. Leitmotiv ist nicht nur das Wandern, es wird das ganze Leben erfaßt:

 

  • Begegnung mit der Natur
  • Pflege lebendiger Überlieferung
  • Reformierung der Kleidung
  • vegetarische und vollwertige Ernährung
  • Abstinenz von Tabak und Alkohol
  • Turnen und Gymnastik

In Lagern findet man das Erlebnis der Einfachheit und der Romantik. Man entdeckt altes Volksgut heu: Tanz, Spiel, Sage und Volkslied. Die kleine Gruppe ist das zentrale Element des Wandervogels, hier findet man Wärme und Freundschaft, hier kann man sich aufeinander verlassen. – Von Wandervogel-Sehnsucht nach Ferne und Abenteuer zeugt das Lied „Wer will mit uns nach Island gehn“.

Im Jahre 1913 einigen sich während des „Freideutschen Jugendtages“ zahlreiche Gruppen aus der Jugendbewegung (neben dem Wandervogel u.a. auch der katholische Quickborn und die sozialistische Arbeiterjugend) auf die „Meißner Formel“, die ein Leben der Jugend aus eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit definiert.

Zur Lagerfeuer-Romantik paßt,das Stundenlied „Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen“ mit 7 Strophen für die Zeit von 10 Uhr abends bis 4 Uhr früh.

Nach dem Ersten Weltkrieg werden neben Wanderungen in Deutschland auch Großfahrten unternommen. Mit der Klampfe im Gepäck und dem Wimpel vornedran geht es nach Südtirol, nach Flandern, ins Elsaß, nach Serbien, nach Griechenland, besonders aber zu den deutschen Sprachinseln in der Zips und im gesamten Donauraum.

Innige Liebesklage spiegelt das Lied „Ich hört ein Sichelein rauschen“ wider.

Im Jahr 1929 gibt es 30.000 Wandervögel in Deutschland, 1933 wird der Bund aufgelöst.

Damit sind wir beim zweiten Abschnitt dieser Ausführungen, dem Lebensweg von Walther Hensel, und wir gehen in Gedanken noch einmal zurück zur Jahrhundertwende.

Zum Riesenreich der k.u.k. Monarchie zwischen Bregenz und Kronstadt, Gardasee und Krakau gehört auch der böhmisch-mährisch-schlesische Raum. Seine Randgebiete sind seit vielen Jahrhunderten von Deutschen besiedelt, so auch Südmähren, eine an Liedern reiche Weinbaugegend.

Hier, in Weißstätten an der Thaya, wird im Jahre 1845 Josef Janiczek geboren. Einem alten Bauerngeschlecht entstammend, bringt er es zum k.u.k. Militär-Kapellmeister, wird Musiklehrer für Geige, Kontrabaß und Baßtuba (nicht gerade zur Freude seines Vaters), dazu Chordirigent und Seidenweber. – Er überlebt drei Ehefrauen. Seine dritte Frau heißt Theresia, geb. Hlawatsch. Sie stammt aus Langenlutsch bei Mährisch Trübau/Schönhengstgau, wohin Josef Janiczek 1874 übersiedelt ist.

Das weite, wellige, fruchtbare Ackerland des Schönhengstgaues wird von langen Straßendörfern durchzogen. Kleine Bauernhäuser mit dem typischen Krüppelwalmdach prägen die Landschaft ebenso wie behäbige große Vierkanthöfe. Sie zeugen vom Fleiß der deutschen Bauern.

Mährisch Trübau ist die Kreisstadt mit etwa 7000 Einwohnern. An der Ecke des großen Marktplatzes liegt das Renaissance-Schloß des Fürsten von Liechtenstein, unweit davon das Holzmaister-Museum, auf das ich am Ende dieser Ausführungen zurückkommen werde.

Es ist der 8.September 1887, Maria Geburt. Josef Janiczek befindet sich nicht in seinem Haus unweit des Friedhofes, er spielt gerade Kontrabaß in der Kirche, als ihm ein Sohn geboren wird. Es ist das achte seiner zehn Kinder, und er tauft es auf den Namen Julius.

Julius Janiczek nennt sich jedoch nicht bis an sein Lebensende so, sondern übersetzt später, etwa 1920, seinen Familiennamen (die slawische Verkleinerungsform von Hans) in Hensel. Als Vornamen wählt er Walther, denn er verehrt den Minnesänger Walther von der Vogelweide über alles.

Nach Volksschule und Gymnasium (Matura 1906) geht er an die Universitäten Wien, Freiburg/Schweiz und Prag und studiert dort die Fächer Alte und Neue Sprachen sowie Musik.

In Wien sind es Kontrapunkt und Harmonielehre bei Professor Hermann Grädener, in Freiburg Choralpraxis bei Dr.Peter Wagner und Dialektforschung bei Professor Primus Lessiak, die den musik- und sprachbegabten Studenten begeistern. Walther Hensel besitzt das absolute Gehör.

Schon auf dem Trübauer Gymnasium hatte ihn sein Deutschlehrer Dr. Franz Spina (selbst Sammler von Sagen und Märchen, später Universitätsprofessor und Minister in Prag) zur Beschäftigung mit Mundart und Volkslied angeregt. Nun promoviert Walther Hensel in Freiburg summa cum laude zum Dr.phil. mit seiner Arbeit „Vokalismus der Mundarten in der Schönhengster Sprachinsel“.

Das Jahr seiner Doktorprüfung, 1911, ist für ihn auch aus einem anderen Grund entscheidend: Zu diesem Zeitpunkt trifft seine Lebenslinie auf die Idee des Wandervogels. Er nimmt dessen Gedankengut begeistert auf und wird Mitbegründer des deutsch-böhmischen und des mährisch-schlesischen Wandervogels.

Neben dem Abenteuer des Wanderns und Lebens in der Natur erfüllt das Singen die Anhänger der Jugendbewegung. Die Wandervögel hatten bereits zwei bahnbrechende Liederbücher herausgebracht: 1909 in Deutschland den „Zupfgeigenhansl“ von Hans Breuer, einem Heidelberger Medizinstudenten; 1912 in Österreich das Buch „Unsere Lieder“ von Ludwig Preiß.

Nun erscheint eine Sammlung von Walther Hensel „Deutsche Liedlein aus Österreich“. Es ist die kostbare Ernte von zwei. Studienfahrten in das liedreiche Kärnten. – Später folgt „Der Prager Spielmann“, ein vor allem für Prager Studenten gedachtes Sing- und Spielbüchlein mit alten und neuen Weisen.

Bald wird Walther Hensel zum „musikalischen Gewissen“ des Wandervogels, er lenkt manchen aus überschäumender Begeisterung entstandenen Wildwuchs in richtige Bahnen. Dr.Rudolf Pechhold, ein Trübauer Wandervogel, erzählt dazu das folgende charakteristische Erlebnis:

„Es war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als uns einmal Walther Hensel im Trübauer Wandervogelnest besuchte. Mit großem Respekt sahen wir zu dem Professor aus Prag auf. Eine Weile hatte er unserem Gesang, den wir mit großer Lautstärke vortrugen, zugehört. Als wir dann aber ein selbst aufgezeichnetes Lied ‚Mit schwachem Arm und bleichen Wangen‘ anstimmten – es schilderte die Not eines Bergmannskindes, das seinen Vater in der Grube verloren hat und war eine unglückliche und schmalzige Nachahmung Wiener Schlagermelodien – da riß unserem Gast die Geduld, und es entlud sich ein kräftiges Gewitter über uns ahnungslose Sänger.

Doch dann nahm Hensel seine Laute und sang uns seine innigen Schönhengster Volkslieder vor, ‚Ich wollt, wenn’s Kohlen schneit‘ und ‚Blüh nur, blüh, mein Sommerkorn‘. Es war still geworden in unserer Runde, und am Heimweg meinte einer von uns nachdenklich: ‚Heut hab ich was dazugelernt‘ „.

Hier stellt sich die Frage, was ein gutes Volkslied auszeichnet, und welche Arten es davon gibt. In vielen wissenschaftlichen Büchern und Vorträgen, auch von Walther Hensel selbst, ist diese Frage behandelt worden und wäre Thema einer Darstellung, die weit über den Rahmen dieses Vertrages hinausginge. Ich will trotzdem versuchen, eine stark vereinfachte Definition anhand von Stichworten zu geben.

Der Stoff des Volksliedes kennzeichnet den Menschen und die Landschaft, aus der das Lied herrührt. Das gute Volkslied behandelt die Dinge des Lebens aus innerer Schau. Es zeigt einen allgemein gültigen Grundgehalt anhand einer äußerlich ablaufenden Handlung.

Die Themen sind vielgestaltig: Es geht um die Zwiesprache mit Gott, also um das Gebet, es geht um Liebe, Ehre, Treue (auch Treue zum Beruf, daher die vielen Handwerkerlieder), um Sehnsucht in die Ferne ebenso wie um Heimatliebe, Brauchtum und Hochzeit; es geht um Berichte über böse Zeiten und um Trauer ebenso wie um Spaß und Frozzelei.

Der Umfang schwankt in weiten Grenzen. Ein Volkslied kann von Begebenheiten in balladenhafter Ausführlichkeit berichten oder aus nur zwei kurzen Strophen bestehen.

Maßstab seiner Güte ist eine dichte, bildhafte, ungekünstelte Sprache und eine edle Melodieführung.

Die Formung, also die Ausgestaltung von Sprache, Melodie, Rhythmus und Begleitung ist variabel und bleibt Sache des Sängers.

Zurück zum weiteren Lebenslauf von Walther Hensel. Nach Doktorprüfung und Ablegung der staatlichen Lehramtsprüfung für Deutsch und Französisch, später auch für Gesang, geht er 1912 an die Deutsche Handelsakademie in Prag und übt dort sieben Jahre lang die Lehrtätigkeit in diesen Fächern aus.

Dann bricht die Katastrophe über die 3 Millionen Deutschen im böhmisch-mährisch-sudetenschlesischen Raum herein. Nach dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie werden sie über Nacht zu einer Minderheit in der neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik. Vergeblich berufen sie sich auf das vom amerikanischen Präsidenten Wilson verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker, vergeblich verlangen ihre Abgeordneten-die Angliederung der deutsch besiedelten Gebiete an Rest-Österreich.

Trotz steigender Unterdrückung suchen sie ihr Heil aber nicht im gewalttätigen Widerstand, sondern in friedlichem Ausgleich und in einer Neubesinnung auf ihre kulturellen Werte.

Walther Hensel sieht nun seine Aufgabe darin, das reiche Erbe an Volksliedern zu erhalten. Zu diesem Zweck gibt er seine sichere Anstellung in Prag auf, arbeitet einige Zeit an der Deutschen Akademie für Wissenschaft und Darstellende Kunst, wird Mitglied im staatlichen Volksliedausschuß der Tschechoslowakei und widmet sich danach voll dem Sammeln und Erneuern von Volksliedern.

Nach dem Muster der Heimvolkshochschulen Finnlands und Norwegens richtet man die Böhmerlandwochen ein. Volksbildner aller politischen Richtungen führen hier schulentwachsene junge Menschen geistig weiter mit dem Ziel, Heimatkunde zu vertiefen, Volkskultur und wertvolles Brauchtum zu erhalten. Walther Hensel übernimmt die Leitung des Singens und gibt diesen Veranstaltungen durch das gemeinsame Lied am Morgen und am Abend einen festen Rahmen.

In Prag leitet Walther Hensel einen Studentenchor mit über 100 Sängern. In vielen Städten Böhmens und Mährens, auf Einladung von Wandervögeln auch in Deutschland und Österreich, gestaltet er Lieder- und Lautenabende zusammen mit seiner Frau, der Konzertsängerin und Gesangspädagogin Olga Pokorny, die er 1919 in Prag geheiratet hatte.

Immer wieder geißelt er die Verlogenheit der nach dem Volksgeschmack fabrizierten Heimatschnulzen und stellt diesen Machwerken die sprachliche und musikalische Kraft des echten Volksliedes gegenüber. Das Singen soll den ganzen Menschen formen:

  • Es ist Körpererfahrung über das Atmen,
  • es ist ein Weg in die Gemeinschaft
  • es führt zum aktiven Miterleben von Freude oder Schmerz.

Etwas Entscheidendes geschieht im Jahre 1923. Walther Hensel setzt seine Idee in die Tat um, das Singen nicht nur für ein paar Abendstunden (wie bei den Gesangsvereinen üblich), sondern eine ganze Woche lang in den Mi.ttelpunkt des Gemeinschaftserlebens einer Gruppe zu stellen. Die erste Singwoche ist geboren.

Vom 11. bis 18.Juli 1923 treffen sich 86 Teilnehmer in der Försterei Finkenstein bei Mährisch Trübau, viel mehr, als die o schlichten Holzgebäude im Wald eigentlich fassen können. Die Menschen stammen aus den verschiedensten Berufen, sie fügen sich klaglos in die primitiven Unterkunftsbedingungen und in eine spartanisch strenge Ordnung.

Der Tag beginnt morgens um 1/2 6 Uhr mit Turnen. Nach dem Frühstück folgt eine intensive Stimmbildung durch Olga Hensel, danach wird auf verschiedenen Gebieten gearbeitet, vier Stunden am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag: Chor- und Orchesterproben, Einführung in die Melodie- und Harmonielehre, Diskussionen und Aussprachen. Die Abende werden gemeinsam musikalisch gestaltet, Bettruhe ist für alle um 22 Uhr.

An einem Tag wandern die Teilnehmer zum großen Platz von Mährisch Trübau und singen vor der Mariensäule nacheinander in alle Himmelsrichtungen.

nach Osten: Nun, Gottes Deutschland, wache auf
nach Westen: Ein feste Burg ist unser Gott
nach Norden: Der grimmig Tod mit seinem Pfeil
nach Süden: Maria durch den Dornwald ging.

Für alle Teilnehmer wird diese Woche zu einem unvergeßlichen Erlebnis, auch für den „Heidemaler“ mit seinem Bild von der Waldwiese.

Studienrat Richard Poppe aus Waldenburg in Schlesien lädt Walther Hensel noch im gleichen Sommer 1923 zur Gestaltung einer Singwoche in die Herrnhuter Siedlung Gnadenfrei ein, wo sich Jugendpfleger und Lehrer aller Schulgattungen zusammenfinden.

Bald folgen Einladungen an Walther Hensel als Chorleiter mit seiner Frau Olga als Stimmbildnerin nach allen Teilen Deutschlands, nach Österreich, in die Schweiz, nach Holland, Dänemark und Finnland.

Seinen Sohn Herbert, geboren 1920, nimmt das Ehepaar oft auf diese Reisen mit. (Herbert Hensel studierte später Medizin und wurde Rektor der Universität Marburg.)

Adolf Seifert aus Asch/Egerland und Oskar Fitz aus Wien gehören zu den ersten Schülern Walther Hensels, die selbst Singwochen gestalten und auf das musische Leben der Jugend wirken.

Ein Teilnehmer der ersten Finkensteiner Singwoche war auf Schleichwegen in den Schönherigstgau gekommen: Der Augsburger Buchhändler Karl Vötterle. Er ist dabei, einen Verlag zu gründen und schlägt eine periodische Schrift vor, die allmonatlich erscheinen und das Organ für Walther Hensels Liedveröffentlichungen werden soll. So entstehen die „Finkensteiner Blätter“, die von 1923 bis 1933 die Entwicklung der Finkensteiner Singbewegung widerspiegeln. Sie werden Grundstock für den heute weltweit wirkenden Bärenreiter Verlag in Kassel.

Als Organisationsform der weitverzweigten Arbeit um das echte Volkslied entsteht der „Finkensteiner Bund“. – Wichtiger und dauerhafter als diese Vereinsgründung ist der lebendige Zusammenhalt der Singwochenteilnehmer in den heimatlichen Singkreisen. Seitdem faßt man die neue Art des Singens und Musizierens in der Gemeinschaft mit Wiederbelebung wertvoller Volkslieder und alter Musik unter dem Begriff „Finkensteiner Singbewegung“ zusammen.

Geistige Nahrung bieten die Veröffentlichungen von Walther Hensel, die er für verschiedene Lebenskreise und Gesellschaftsschichten herausgibt. Das drei- und vierstimmig gesetzte „Aufrecht Fähnlein“ stellt er für Prager Studenten zusammen, auch das „Finkensteiner Liederbuch“ ist für mehrstimmiges Chorsingen gedacht. Es wird zur Quelle für viele Liederbücher anderer Herausgeber. „Strampedemi“ bzw. „Spinnerin Lob und Dank“ geben Burschen bzw. Mädchen wertvolle Lieder an die Hand. Den größten Erfolg erlangt Walther Hensel mit dem „Singenden Quell“, einem Büchlein mit bewußt kleiner Liedauswahl und improvisierten zweistimmigen Sätzen.

Alle diese Werke weisen Walther Hensel als einen unermüdlichen Sammler von Volksliedern aus. Dabei stellt er neben den reichen Schatz an Liedern seiner engeren Heimat, den er zum größten Teil von seiner Mutter übernimmt, auch Lieder aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, besonders auch aus den Sprachinseln im Osten und Südosten. Seine eingehende Kenntnis des slawischen, französischen, ja auch finnischen Liedgutes macht ihn fähig zu vergleichender Volksliedforschung, zur Übersetzung sogar fremdsprachiger Mundartlieder. Walther Hensel kennt sich schließlich in 26 Fremdsprachen aus. Unter seinen nicht veröffentlichten Aufzeichnungen gibt es ein „Europäisches Liederbuch“ – damit war er seiner Zeit weit voraus und damals schon Repräsentant europäischen Geistes.

In seinem wichtigsten musiktheoretischen Buch „Auf den Spuren des Volksliedes“ äußert er sich auch zur Satzkunst. Er meint, daß der vierstimmige Satz einer Feierstunde als festliche Krönung vorbehalten bleiben möge. Hohe Wertschätzung bringt er der Sprache und deshalb dem einstimmigen Gesang entgegen. Als Chorleiter soll er nach der Probe eines mehrstimmigen Liedes einmal gesagt haben: „Einstimmig müßt‘ das noch viel besser klingen – aber das ist wohl zu schwer für Euch.“

Walther Hensel ist seines Zeichens Germanist, von Geblüt aber Musiker. So kann er umfassender die Werte im Volkslied aufzeigen als Herder und Uhland, seine großen Vorgänger in der Volksliedkunde, die vor allem das Dichterische darin erschlossen hatten. Und er ist nicht nur Sammler von Volksliedern, wie z.B. die Sudetendeutschen Horntrich und Jungbauer, die etwa 26000 Lieder zusammengetragen hatten. Walther Hensel hingegen bringt das Volkslied, mit den feinen Mitteln des Restaurators gereinigt, dem Menschen wieder nahe:

  • er revidiert zersungene Texte;
  • er gestaltet aus alten Liedern mit zahhlreichen Versen kürzere, singbare Fassungen;
  • er erläutert ungewöhnliche Worte und Symbole sprachlich;
  • er macht Texte, deren Weise verloren gegangen ist, durch eine im alten Geist erneuerte Melodie wieder singbar.

In der Wertung hält Walther Hensel das „lineare“ Lied des Mittelalters für die Höchstform und nennt es „Wellentypus“ (Typ A), da die Melodie frei schwingen kann. – Der spätere, auf den Akkorden der Kadenz wie auf Pfeilern ruhende „Girlandentypus“ (Typ B) stellt nach seiner Meinung bereits eine gewisse Verweichlichung dar. – Der im 20. Jahrhundert vorherrschende „Typ C“ (Beispiel Bänkelsängerlied) und andere Verfausformen sind nach seiner Meinung zersungen und „von Sentimentalität verseucht“.

Zu den drei Typen gibt Walther Hensel folgende Beispiele an.

Typ A: Es sungen drei Engel ein süßen Gesang
Christ ist erstanden
Es ist ein Ros‘ entsprungen
Es liegt ein Schloß in Österreich
Nun laube, Lindlein, laube
Trost die Bedrängten (Raphaelslied), hier als
Hörprobe wiedergegeben.
Typ B: Und in dem Schneegebirge
Wach, Nachtigall, wach auf
Es stand ein Lind im tiefen Tal
Wenn alle Brünnlein fließen
Es blies ein Jäger wohl in sein Hörn
Grüaß di God, du Haslnußstaud’n
Dort nieden in jenem Holze
Stehn zwei Stern am hohen Himmel
Ich ging durch einen grasgrünen Wald (Hörprobe).
Typ C: Drei Lilien, drei Lilien
Horch, was kommt von draußen rein
Ich schieß den Hirsch im wilden Forst
Nun ade, du mein lieb Heimatland
Lustig ist das Matrosenleben
Und der Hans schleicht umher.

Auch wenn wir heute eine Trennung und Wertung in dieser Strenge nicht mehr nachvollziehen, das grundsätzliche Ziel von Walther Hensel, „dem Schwund der kulturellen Substanz Einhalt zu gebieten“, gilt nach wie vor.

Die Jahre 1923 bis 1933 zählen zu den glücklichsten im Leben von Walther Hensel. In dieser Zeit geht sein Wirken weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, sogar in Südafrika gibt es Singwochen henselscher Prägung. – Bis 1925 lebt er in Prag, dann wird er als Leiter der städtischen Jugendmusikschule nach Dortmund berufen und arbeitet erfolgreich im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Im Jahre 1930 geht er nach Süddeutschland, vornehmlich nach Stuttgart, wo er das Singen an der Volkshochschule leitet.

Daneben ist er unermüdlich unterwegs bei Singwochen als strenger, manchmal polternder Chorleiter. Doch auf der anderen Seite zeigt er sich in kindlicher Einfachheit und kann sich über harmlose Spaße von Herzen freuen. Ein Teilnehmer erzählt:

Einmal stand Walther Hensel neben einer musizierenden Gruppe, zu der sich gerade ein Flötist gesellt hatte, und sinnierte laut vor sich hin „Horch, der Flöte Geisterklang…“. Da der Flötist, ein Anfänger, im Tempo nicht mitkam, ergänzte der neben Walther Hensel stehende Werner Gneist

„Horch der Flöte Geisterklang
bewegt sich hier im Kleistergang“,

was Walther Hensel über alle Maßen belustigte.

Ein andermal hatte der Chor zu singen „…da wohnet mein Lieb“. Nun ist „i“ als letzter Vokal nicht leicht zu singen, und Hensel grollte: „Das Liebchen nicht quetschen!!“ – Schmunzeln, Kichern, wachsende Heiterkeit im Chor. Doch erst, als man ihn auf seinen unfreiwilligen Ausspruch hinwies, lachte er herzlich mit.

Nach dem Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich kehrt Walther Hensel 1938 von Stuttgart in seine Heimat zurück und läßt sich mit seiner zweiten Frau Paula Wimmer (sie stammt aus Wasserburg am Inn) in Teplitz/Nordböhmen nieder.

Unter dem Hitler-Regime wird seine Arbeit durch viele Auflagen erschwert. Die Kampf- und Stampflieder der SA und der Hitlerjugend sind ihm ein Greuel, sind das Gegenteil von dem, was er mit der inneren Erneuerung des Volkes durch das Lied anstrebt. Von seinem Mut zeugt die geäußerte Feststellung, das Horst-Wessel-Lied sei musikalisch wertlos.

Seine bereits erwähnte Volksliedkunde „Auf den Spuren des Volkslieds“ wird kurz nach Erscheinen verboten, da sie ein der Parteiführung nicht genehmes Vorwort enthält. Aber auch in der geänderten Fassung schreibt Walther Hensel noch: „… im übrigen kann man mir nicht zumuten, das Gegenteil von dem zu schreiben, was meine Überzeugung ist…“.

Wir sehen Walther Hensel 1943 nochmals in Prag, wo ihm die philosophische Fakultät der Karls-Universität für seine wissenschaftlichen Leistungen den Eichendorff-Preis verleiht. Zur gleichen Zeit erhält er vom Deutschen Ministerium in Prag den Auftrag zur Erforschung des deutschen und slawischen Volkslieds im böhmisch-mährischen Raum.

1945 teilt er das Schicksal seiner Landsleute, die aus ihrer Heimat vertrieben werden. Er findet sich mit seiner Frau und dem noch nicht 5-jährigen Töchterchen Hildegard aus zweiter Ehe in Landshut wieder, völlig mittellos. Noch schwerer wiegt, daß sein ganzes wissenschaftliches Material und seine wertvolle Sammlung von Instrumenten in Böhmen geblieben sind. Diesen Schlag hat Walther Hensel nie überwunden.

Dennoch bleibt er aktiv:

1946 Uraufführung seiner „Erntekantate“
1947 Singabende mit der VHS München
Beginn einer Wanderlehrertätigkeit im Auftrag des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege
Abfassung einer Harfenschule für seine Tochter Hildegard
1948 Singwoche auf Gut Waitzacker bei Weilheim mit 5 mal so viel Anmeldungen wie Unterbringungsmöglichkeiten
Berater für das Volksliederarchiv der Münchener Städtischen Musikbibliothek
1950 Singwoche in Neßlau/Schweiz
1950 Herausgabe des Liederbuches „Unser Land im Lied“
1950 bis 1953 Vorlesungen über Kirchenmusik, speziell Choräle
1951 und 1952 Vortrag, Singwoche, Liederabende in Schweinfurt
1953 bis 1955 Singwochen in Schloß Gaibach/Mainfranken, in Toggenburg/Schweiz, Pleystein/Oberpfalz, Winnenden bei Stuttgart, Waiblingen, Eßlingen, Karlsruhe, Waldkraiburg

Mit dem Erhalt der musischen Substanz will Walther Hensel „dem verlorenen Land eine Heimstatt im Herzen bereiten“ und er beklagt sich bitter über die mangelnden Aktivitäten der Vertriebenen in der Volksliedpflege.

Hunger und die Kälte der ungeheizten Wohnung in München schwächen seinen Körper. Die Angebote von Freunden, die ihm helfen wollen, scheitern meist an seiner unnachgiebigen, immer mehr die Realitäten verkennenden Haltung. So wird es immer stiller um ihn.

Die Verleihung des Sudetendeutschen Kulturpreises zu Pfingsten 1956 durch Lodgman von Auen bringt seinen Namen noch einmal vor die große Öffentlichkeit. – Doch noch im selben Jahr, am 5. September 1956, stirbt Walther Hensel nach einem Schlaganfall in einem Münchener Krankenhaus.

Sein 69. Geburtstag, der 8.9.56, wird zu seinem Begräbnistag. Auf ^ einem Blatt zum Totenandenken stehen die ersten Worte aus dem „Reisesegen“, den er 30 Jahre zuvor im slowakisch-mährischen Gebiet aufgezeichnet und ins Deutsche übertragen hatte:

Will in Gottes Nam
meine Fahrt anheben
und mich in seinen Schutz
ganz und gar begeben.

Wir sind beim dritten Teil dieser Abhandlung: Was ist von Walther Hensels Leben und Werk geblieben?

Nur wenige äußeren Dinge sind es, die an diese bedeutende sudetendeutsche Persönlichkeit erinnern. Sein Grab am Münchener Waldfriedhof liegt, symbolhaft für Hensels Bescheidenheit im Leben, abseits vom Hauptweg unter hohen Bäumen, das schmiedeeiserne Kreuz muß mit offenen Augen gesucht werden.

Nur eine Atelier-Fotografie ist von Walther Hensel erhalten und nicht eine einzige Tonbandaufnahme, Ausdruck seiner Distanz zu jeder mechanischen Wiedergabe.

Auf Schloß Waldeck im Hunsrück haben die Nerother Wandervögel allen Führern der Jugendbewegung in einem Hain Gedenksteine errichtet, neben Walther Hensel findet man hier die Namen von Hans Breuer, Fritz Jode und Richard Poppe.

Eine ausdrucksvolle Bronze-Büste Walther Hensels fertigte seine Tochter Hildegard. Sie wurde Bildhauerin, heiratete 1967 den Oberstudienrat Frank Skasa-Weiß und lebte mit ihm und ihren drei Kindern zuletzt in Ohlstadt bei Murnau. Nach einem sehr aktiven Leben, das sie zuletzt gesundheitlich überforderte, ist Hildegard am 14.12.1992, erst 52 Jahre alt, gestorben.

Noch am 2.9.1.992 hatte Hildegard Hensel in Teplitz zum 105.Geburtstag ihres Vaters eine Gedenktafel enthüllt.

Die Grund- und Hauptschule in Göppingen, Patenstadt der Schönhengster, trägt den Namen von Walther Hensel und zwei Straßen in der Bundesrepublik sind nach ihm benannt.

So bescheiden die sichtbaren Erinnerungen, so großartig ist Walther Hensels geistiges Erbe, sein Einfluß auf die Singbewegung, der bis heute nachwirkt.

An erster Stelle sind wohl die durch ihn allgemein zugänglich gewordenen Lieder zu nennen, die er mit feinem Gespür für das Echte auswählte, singbar machte und erläuterte. Viele davon werden heute in ganz Deutschland und jenseits der Grenzen gesungen. Einige Beispiele mögen für viele andere stehen:

Auf, du junger Wandersmann,
Jetzt fahr’n wir übern See
Auf, auf, ihr Wandersleut
Im Märzen der Bauer
Jetzt kommt die Zeit, daß ich wandern muß
Auf, auf zum fröhlichen Jagen
Im Frühtau zu Berge
Kein schöner Land in dieser Zeit.

Auf breiter Basis wirkt auch die Idee von Walther Hensel nach, sich für die Dauer einer ganzen Woche gemeinschaftlich zum Singen, Tanzen und Musizieren zu treffen. Allein in Deutschland werden derzeit Hunderte von musischen Wochen veranstaltet. Die umfangreichen Jahresprogramme des „Arbeitskreises für Musik in der Jugend“ und des „Internationalen Arbeitskreises für Musik“ sprechen für sich.

Fruchtbare Wirkungen ergaben sich aus Walther Hensels Kontakt und die Auseinandersetzung mit anderen Chorleitern und Komponisten, z.B. mit Fritz Jöde in Norddeutschland oder mit dem Schlesier Werner Gneist, der vielfache Anregungen zur Singwochenarbeit erhielt. Auch Hans Klein aus Jägerndorf/Sudetenschlesien arbeitete im Sinne von Walther Hensel und machte sich als Wiedererwecker des Oberuferer Christgeburtsspiels einen Namen. Dieses Spiel ist in das Brauchtum der Anthroposophen eingegangen.

Auch die in jüngerer Zeit immer mehr aufkommenden Passionssingen profitieren von Hensels Sammeltätigkeit. Das berühmte Pilatuslied aus dem Sorger Passionsspiel, in Kärnten aufgezeichnet, wird meist in seinem Satz gesungen, ebenso das bereits erwähnte Lied „Es sungen drei Engel ein süßen Gesang“, dessen Strophen bis ins 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen sind.

Zahlreiche Volkstänze, die heute zum selbstverständlichen Tanzgut gehören, gehen auf die Finkensteiner Tradition zurück.

Auch Volksmusik-Wettbewerbe und Preissingen waren Idee von Walther Hensel, der sich bereits 1923, gemeinsam mit Kiem Pauli, in einem eigenen Büchlein mit deren Durchführung befaßt hatte.

Die lebendigsten und eindrucksvollsten Beispiele für das Weiterwirken henselscher Singwochentradition in verschiedenen Ausprägungen sind die nach dem zweiten Weltkrieg in Österreich und Deutschland erfolgreich tätigen Spielscharen. Von einigen kann ich aus persönlichem Erleben berichten.

Zu den Männern, die unmittelbar nach Kriegsende das Finkensteiner Erbe mit Leben erfüllten und weiterentwickelten, gehörte Hermann
Derschmidt
 aus Wels/Oberösterreich. Bei seinen Almsingwochen wurde viel im Freien gesungen und getanzt. Gleichberechtigt lehrte er Liedgut aus dem gesamten deutschsprachigen Raum neben den für das Alpenvorland typischen Jodlern, die in die Stille der Almregion weit hinausklangen. – Dreimal jährlich lud die „Welser Rud“ zu Volkstanzfesten ein, bei denen sich mehrere Musiziergruppen abwechselten. Der Auftanz mit über hundert Paaren in Tracht war, von der Galerie des Saales aus betrachtet, allein optisch ein Erlebnis.

Fachlehrer Siegfried Knirsch, schon in seiner Heimat Mährisch Schönberg unter dem Namen „Vati Knirsch“ bekannt, lud 1948, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft, zu einer Singwoche nach Reit im Winkl/Oberbayern ein, der 14 weitere folgten. Die Begeisterung der Teilnehmer ließ damals alle äußere Not vergessen: Man schlief auf Stroh und verpflegte sich durch mitgebrachte Kartoffeln. Man sang Werke aus verschiedenen Epochen und beherrschte die auf Plakatpapier geschriebenen Lieder sehr schnell auswendig. – Vati Knirsch verstand es, die strenge Musikalität henselscher Prägung mit der überschäumenden geselligen Liedpflege des bayerischen Landes zu verbinden. Sein häufiger Gesprächspartner war Wastl Fanderl, damals noch am Beginn seiner Laufbahn als bekannter bayerischer Volksmusikpfleger.

Zu Pfingsten 1952, also ebenfalls bald nach Kriegsende, wurde die „Südmährische Sing- und Spielschar“ in Stuttgart gegründet. Unter ihrem Leiter Hans Proksch gedieh sie schnell zu hoher musikalischer Qualität. Als „Botschafter des Friedens“ wurde sie als erste deutsche Spielschar nach dem Krieg zu mehrwöchigen Fahrten nach Finnland und nach Norwegen entsandt. Bei langen Abendprogrammen unter freiem, hellem Himmel schloß man herzliche Freundschaft mit den dortigen Volkstums-Gruppen. – Neben der Pflege des südmährischen Volksliedes wurden von der „SSS“ inzwischen mehrere neu entstandene Werke, komponiert von Widmar Hader, dem Leiter des „Sudetendeutschen Musikinstitutes“, aufgeführt.

In Stuttgart hatte nicht nur Walther Hensel gewirkt, auch seine erste Frau war dort noch bis in die 70er Jahre als Stimmbildnerin in enger Zusammenarbeit mit der „Walther-Hensel-Gesellschaft“ tätig. Diese im Jahre 1961 gegründete Vereinigung hat sich in der ersten Zeit ihres Bestehens vor allem um den Neudruck der vergriffenen Liederbücher von Walther Hensel bemüht. Seit vielen Jahren von Herbert Preisenhammer mit Geschick und Fleiß geleitet, ist sie Plattform für zahlreiche Wochenendsingen, Singwochen und Gemeinschaftsreisen. Im Rahmen der „Arbeitsgemeinschaft der Sing-, Tanz und Spielkreise in Baden-Württemberg“ hat Herbert Preisenhammer, selbst Komponist, das musikalische Leben in Stuttgart mitbestimmt und z.B. eine Tradition des (zuvor hier unbekannten) Adventssingens eingeführt.

Enger Kontakt wird von Herbert Preisenhammer zur Heimatstadt von Walther Hensel, Mährisch Trübau, gehalten. Hier gibt es seit einigen Jahren das vom tschechischen und deutschen Staat gemeinsam finanzierte „BegegnungsZentrum Walther Hensel“ im Gebäude des Holzmaister-Museums. – Bei Singwochen-Abschlußkonzerten im Begegnungszentrum waren nicht nur die Teilnehmer um Herbert Preisenhammer, sondern auch die Gäste tschechischer und deutscher Zunge vom festlichen Rahmen und von dem wieder zum Leben erweckten Volksliedschatz beeindruckt.

Das Erbe von Walther Hensel lebt in reicher Form auch in der (noch von ihm selbst mitbegründeten) Schönhengster Spielschar, im Iglauer Singkreis, in der Spielschar Sudetendeutscher Erzieher und in vielen anderen Spielscharen, Sing-, Tanz- und Musizierkreisen
weiter.

Daß das Wirken dieser aus der Singbewegung schöpfenden Gemeinschaften nicht erstarren möge, sondern auch Neuem aufgeschlossen bleibe, war ein Anliegen von Walther Hensel während seiner letzten Singwoche in Waldkraiburg. Seine Worte haben ihre Gültigkeit bis heute behalten:

„Werdet keine Nur-Finkensteiner, keine Romantiker!
Die Tradition wird untergehen, aber wir müssen
über den Abgrund weg zur Zukunft schauen.
Es gilt, aus der Überlieferung das Zeitlos-Menschliche
in die neuen Verhältnisse mitzunehmen.“

27. Juli 1998
Dr. Helmut Janku
Neutraublinger Straße 5
D-83301 Traunreut
Tel. 08669-37297

 

Hinweis: Wer nähere Informationen über die oben erwähnten Spielscharen, Sing-, Tanz- und Musizierkreise einholen möchte oder evtl. vorhat, sich einer dieser Gemeinschaften anzuschließen, kann entsprechende Kontaktadressen bei mir erfragen.