In Lagern
findet man das Erlebnis der Einfachheit und der Romantik. Man entdeckt altes
Volksgut heu: Tanz, Spiel, Sage und Volkslied. Die kleine Gruppe ist das zentrale
Element des Wandervogels, hier findet man Wärme und Freundschaft, hier
kann man sich aufeinander verlassen. - Von Wandervogel-Sehnsucht nach Ferne
und Abenteuer zeugt das Lied "Wer will mit uns nach Island gehn".
Im Jahre 1913 einigen sich während des "Freideutschen Jugendtages"
zahlreiche Gruppen aus der Jugendbewegung (neben dem Wandervogel u.a. auch
der katholische Quickborn und die sozialistische Arbeiterjugend) auf die "Meißner
Formel", die ein Leben der Jugend aus eigener Verantwortung und in innerer
Wahrhaftigkeit definiert.
Zur Lagerfeuer-Romantik paßt,das Stundenlied "Hört, ihr Herrn,
und laßt euch sagen" mit 7 Strophen für die Zeit von 10 Uhr
abends bis 4 Uhr früh.
Nach dem Ersten Weltkrieg werden neben Wanderungen in Deutschland auch Großfahrten
unternommen. Mit der Klampfe im Gepäck und dem Wimpel vornedran geht
es nach Südtirol, nach Flandern, ins Elsaß, nach Serbien, nach
Griechenland, besonders aber zu den deutschen Sprachinseln in der Zips und
im gesamten Donauraum.
Innige Liebesklage spiegelt das Lied "Ich hört ein Sichelein rauschen"
wider.
Im Jahr 1929 gibt es 30.000 Wandervögel in Deutschland, 1933 wird der
Bund aufgelöst.
Damit sind wir beim zweiten Abschnitt dieser Ausführungen, dem Lebensweg
von Walther Hensel, und wir gehen in Gedanken noch einmal zurück zur
Jahrhundertwende.
Zum Riesenreich der k.u.k. Monarchie zwischen Bregenz und Kronstadt, Gardasee
und Krakau gehört auch der böhmisch-mährisch-schlesische Raum.
Seine Randgebiete sind seit vielen Jahrhunderten von Deutschen besiedelt,
so auch Südmähren, eine an Liedern reiche Weinbaugegend.
Hier, in
Weißstätten an der Thaya, wird im Jahre 1845 Josef Janiczek
geboren. Einem alten Bauerngeschlecht entstammend, bringt er es zum k.u.k.
Militär-Kapellmeister, wird Musiklehrer für Geige, Kontrabaß
und Baßtuba (nicht gerade zur Freude seines Vaters), dazu Chordirigent
und Seidenweber. - Er überlebt drei Ehefrauen. Seine dritte Frau heißt
Theresia, geb. Hlawatsch. Sie stammt aus Langenlutsch bei Mährisch
Trübau/Schönhengstgau, wohin Josef Janiczek 1874 übersiedelt
ist.
Das weite, wellige, fruchtbare Ackerland des Schönhengstgaues wird von
langen Straßendörfern durchzogen. Kleine Bauernhäuser mit
dem typischen Krüppelwalmdach prägen die Landschaft ebenso wie behäbige
große Vierkanthöfe. Sie zeugen vom Fleiß der deutschen Bauern.
Mährisch Trübau ist die Kreisstadt mit etwa 7000 Einwohnern. An der Ecke des großen Marktplatzes liegt das Renaissance-Schloß des Fürsten von Liechtenstein, unweit davon das Holzmaister-Museum, auf das ich am Ende dieser Ausführungen zurückkommen werde.
Es ist der
8.September 1887, Maria Geburt. Josef Janiczek befindet sich nicht in seinem
Haus unweit des Friedhofes, er spielt gerade Kontrabaß in der Kirche,
als ihm ein Sohn geboren wird. Es ist das achte seiner zehn Kinder, und er
tauft es auf den Namen Julius.
Julius Janiczek nennt sich jedoch nicht bis an sein Lebensende so,
sondern übersetzt später, etwa 1920, seinen Familiennamen (die slawische
Verkleinerungsform von Hans) in Hensel. Als Vornamen wählt er
Walther, denn er verehrt den Minnesänger Walther von der Vogelweide
über alles.
Nach Volksschule und Gymnasium (Matura 1906) geht er an die Universitäten
Wien, Freiburg/Schweiz und Prag und studiert dort die Fächer Alte und
Neue Sprachen sowie Musik.
In Wien sind es Kontrapunkt und Harmonielehre bei Professor Hermann Grädener,
in Freiburg Choralpraxis bei Dr.Peter Wagner und Dialektforschung bei
Professor Primus Lessiak, die den musik- und sprachbegabten Studenten
begeistern. Walther Hensel besitzt das absolute Gehör.
Schon auf dem Trübauer Gymnasium hatte ihn sein Deutschlehrer Dr.
Franz Spina (selbst Sammler von Sagen und Märchen, später Universitätsprofessor
und Minister in Prag) zur Beschäftigung mit Mundart und Volkslied angeregt.
Nun promoviert Walther Hensel in Freiburg summa cum laude zum Dr.phil. mit
seiner Arbeit "Vokalismus der Mundarten in der Schönhengster Sprachinsel".
Das Jahr seiner Doktorprüfung, 1911, ist für ihn auch aus einem
anderen Grund entscheidend: Zu diesem Zeitpunkt trifft seine Lebenslinie auf
die Idee des Wandervogels. Er nimmt dessen Gedankengut begeistert auf
und wird Mitbegründer des deutsch-böhmischen und des mährisch-schlesischen
Wandervogels.
Neben dem Abenteuer des Wanderns und Lebens in der Natur erfüllt das
Singen die Anhänger der Jugendbewegung. Die Wandervögel hatten bereits
zwei bahnbrechende Liederbücher herausgebracht: 1909 in Deutschland den
"Zupfgeigenhansl" von Hans Breuer, einem Heidelberger
Medizinstudenten; 1912 in Österreich das Buch "Unsere Lieder"
von Ludwig Preiß.
Nun erscheint
eine Sammlung von Walther Hensel "Deutsche Liedlein aus Österreich".
Es ist die kostbare Ernte von zwei. Studienfahrten in das liedreiche Kärnten.
- Später folgt "Der Prager Spielmann", ein vor allem
für Prager Studenten gedachtes Sing- und Spielbüchlein mit alten
und neuen Weisen.
Bald wird Walther Hensel zum "musikalischen Gewissen" des Wandervogels,
er lenkt manchen aus überschäumender Begeisterung entstandenen Wildwuchs
in richtige Bahnen. Dr.Rudolf Pechhold, ein Trübauer Wandervogel,
erzählt dazu das folgende charakteristische Erlebnis:
"Es war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als uns einmal Walther
Hensel im Trübauer Wandervogelnest besuchte. Mit großem Respekt
sahen wir zu dem Professor aus Prag auf. Eine Weile hatte er unserem Gesang,
den wir mit großer Lautstärke vortrugen, zugehört. Als wir
dann aber ein selbst aufgezeichnetes Lied 'Mit schwachem Arm und bleichen
Wangen' anstimmten - es schilderte die Not eines Bergmannskindes, das seinen
Vater in der Grube verloren hat und war eine unglückliche und schmalzige
Nachahmung Wiener Schlagermelodien - da riß unserem Gast die Geduld,
und es entlud sich ein kräftiges Gewitter über uns ahnungslose Sänger.
Doch dann nahm Hensel seine Laute und sang uns seine innigen Schönhengster
Volkslieder vor, 'Ich wollt, wenn's Kohlen schneit' und 'Blüh nur, blüh,
mein Sommerkorn'. Es war still geworden in unserer Runde, und am Heimweg meinte
einer von uns nachdenklich: 'Heut hab ich was dazugelernt' ".
Hier stellt sich die Frage, was ein gutes Volkslied auszeichnet, und welche
Arten es davon gibt. In vielen wissenschaftlichen Büchern und Vorträgen,
auch von Walther Hensel selbst, ist diese Frage behandelt worden und wäre
Thema einer Darstellung, die weit über den Rahmen dieses Vertrages hinausginge.
Ich will trotzdem versuchen, eine stark vereinfachte Definition anhand von
Stichworten zu geben.
Der Stoff des Volksliedes kennzeichnet den Menschen und die Landschaft,
aus der das Lied herrührt. Das gute Volkslied behandelt die Dinge des
Lebens aus innerer Schau. Es zeigt einen allgemein gültigen Grundgehalt
anhand einer äußerlich ablaufenden Handlung.
Die Themen sind vielgestaltig: Es geht um die Zwiesprache mit Gott,
also um das Gebet, es geht um Liebe, Ehre, Treue (auch Treue zum Beruf, daher
die vielen Handwerkerlieder), um Sehnsucht in die Ferne ebenso wie um Heimatliebe,
Brauchtum und Hochzeit; es geht um Berichte über böse Zeiten und
um Trauer ebenso wie um Spaß und Frozzelei.
Der Umfang schwankt in weiten Grenzen. Ein Volkslied kann von Begebenheiten
in balladenhafter Ausführlichkeit berichten oder aus nur zwei kurzen
Strophen bestehen.
Maßstab seiner Güte ist eine dichte, bildhafte, ungekünstelte
Sprache und eine edle Melodieführung.
Die Formung, also die Ausgestaltung von Sprache, Melodie, Rhythmus
und Begleitung ist variabel und bleibt Sache des Sängers.
Zurück
zum weiteren Lebenslauf von Walther Hensel. Nach Doktorprüfung und Ablegung
der staatlichen Lehramtsprüfung für Deutsch und Französisch,
später auch für Gesang, geht er 1912 an die Deutsche Handelsakademie
in Prag und übt dort sieben Jahre lang die Lehrtätigkeit in diesen
Fächern aus.
Dann bricht die Katastrophe über die 3 Millionen Deutschen im böhmisch-mährisch-sudetenschlesischen
Raum herein. Nach dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie
werden sie über Nacht zu einer Minderheit in der neu gegründeten
Tschechoslowakischen Republik. Vergeblich berufen sie sich auf das vom amerikanischen
Präsidenten Wilson verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker,
vergeblich verlangen ihre Abgeordneten-die Angliederung der deutsch besiedelten
Gebiete an Rest-Österreich.
Trotz steigender Unterdrückung suchen sie ihr Heil aber nicht im gewalttätigen
Widerstand, sondern in friedlichem Ausgleich und in einer Neubesinnung auf
ihre kulturellen Werte.
Walther Hensel sieht nun seine Aufgabe darin, das reiche Erbe an Volksliedern
zu erhalten. Zu diesem Zweck gibt er seine sichere Anstellung in Prag auf,
arbeitet einige Zeit an der Deutschen Akademie für Wissenschaft und Darstellende
Kunst, wird Mitglied im staatlichen Volksliedausschuß der Tschechoslowakei
und widmet sich danach voll dem Sammeln und Erneuern von Volksliedern.
Nach dem Muster der Heimvolkshochschulen Finnlands und Norwegens richtet man
die Böhmerlandwochen ein. Volksbildner aller politischen Richtungen
führen hier schulentwachsene junge Menschen geistig weiter mit dem Ziel,
Heimatkunde zu vertiefen, Volkskultur und wertvolles Brauchtum zu erhalten.
Walther Hensel übernimmt die Leitung des Singens und gibt diesen Veranstaltungen
durch das gemeinsame Lied am Morgen und am Abend einen festen Rahmen.
In Prag leitet Walther Hensel einen Studentenchor mit über 100 Sängern.
In vielen Städten Böhmens und Mährens, auf Einladung von Wandervögeln
auch in Deutschland und Österreich, gestaltet er Lieder- und Lautenabende
zusammen mit seiner Frau, der Konzertsängerin und Gesangspädagogin
Olga Pokorny, die er 1919 in Prag geheiratet hatte.
Immer wieder geißelt er die Verlogenheit der nach dem Volksgeschmack
fabrizierten Heimatschnulzen und stellt diesen Machwerken die sprachliche
und musikalische Kraft des echten Volksliedes gegenüber. Das Singen
soll den ganzen Menschen formen:
Etwas Entscheidendes
geschieht im Jahre 1923. Walther Hensel setzt seine Idee in die Tat um, das
Singen nicht nur für ein paar Abendstunden (wie bei den Gesangsvereinen
üblich), sondern eine ganze Woche lang in den Mi.ttelpunkt des Gemeinschaftserlebens
einer Gruppe zu stellen. Die erste Singwoche ist geboren.
Vom 11. bis 18.Juli 1923 treffen sich 86 Teilnehmer in der Försterei
Finkenstein bei Mährisch Trübau, viel mehr, als die o schlichten
Holzgebäude im Wald eigentlich fassen können. Die Menschen stammen
aus den verschiedensten Berufen, sie fügen sich klaglos in die primitiven
Unterkunftsbedingungen und in eine spartanisch strenge Ordnung.
Der Tag beginnt morgens um 1/2 6 Uhr mit Turnen. Nach dem Frühstück
folgt eine intensive Stimmbildung durch Olga Hensel, danach wird auf verschiedenen
Gebieten gearbeitet, vier Stunden am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag:
Chor- und Orchesterproben, Einführung in die Melodie- und Harmonielehre,
Diskussionen und Aussprachen. Die Abende werden gemeinsam musikalisch gestaltet,
Bettruhe ist für alle um 22 Uhr.
An einem Tag wandern die Teilnehmer zum großen Platz von Mährisch
Trübau und singen vor der Mariensäule nacheinander in alle Himmelsrichtungen.
nach Osten: | Nun, Gottes Deutschland, wache auf |
nach Westen: | Ein feste Burg ist unser Gott |
nach Norden: | Der grimmig Tod mit seinem Pfeil |
nach Süden: | Maria durch den Dornwald ging. |
Für
alle Teilnehmer wird diese Woche zu einem unvergeßlichen Erlebnis, auch
für den "Heidemaler" mit seinem Bild von der Waldwiese.
Studienrat Richard Poppe aus Waldenburg in Schlesien lädt Walther
Hensel noch im gleichen Sommer 1923 zur Gestaltung einer Singwoche in die
Herrnhuter Siedlung Gnadenfrei ein, wo sich Jugendpfleger und Lehrer aller
Schulgattungen zusammenfinden.
Bald folgen Einladungen an Walther Hensel als Chorleiter mit seiner Frau Olga
als Stimmbildnerin nach allen Teilen Deutschlands, nach Österreich, in
die Schweiz, nach Holland, Dänemark und Finnland.
Seinen Sohn Herbert, geboren 1920, nimmt das Ehepaar oft auf diese
Reisen mit. (Herbert Hensel studierte später Medizin und wurde Rektor
der Universität Marburg.)
Adolf Seifert aus Asch/Egerland und Oskar Fitz aus Wien gehören
zu den ersten Schülern Walther Hensels, die selbst Singwochen gestalten
und auf das musische Leben der Jugend wirken.
Ein Teilnehmer der ersten Finkensteiner Singwoche war auf Schleichwegen in
den Schönherigstgau gekommen: Der Augsburger Buchhändler Karl
Vötterle. Er ist dabei, einen Verlag zu gründen und schlägt
eine periodische Schrift vor, die allmonatlich erscheinen und das Organ für
Walther Hensels Liedveröffentlichungen werden soll. So entstehen die
"Finkensteiner Blätter", die von 1923 bis 1933 die Entwicklung
der Finkensteiner Singbewegung widerspiegeln. Sie werden Grundstock für
den heute weltweit wirkenden Bärenreiter Verlag in Kassel.
Als Organisationsform der weitverzweigten Arbeit um das echte Volkslied entsteht
der "Finkensteiner Bund". - Wichtiger und dauerhafter als
diese Vereinsgründung ist der lebendige Zusammenhalt der Singwochenteilnehmer
in den heimatlichen Singkreisen. Seitdem faßt man die neue Art des Singens
und Musizierens in der Gemeinschaft mit Wiederbelebung wertvoller Volkslieder
und alter Musik unter dem Begriff "Finkensteiner Singbewegung"
zusammen.
Geistige
Nahrung bieten die Veröffentlichungen von Walther Hensel, die er für
verschiedene Lebenskreise und Gesellschaftsschichten herausgibt. Das drei-
und vierstimmig gesetzte "Aufrecht Fähnlein" stellt
er für Prager Studenten zusammen, auch das "Finkensteiner Liederbuch"
ist für mehrstimmiges Chorsingen gedacht. Es wird zur Quelle für
viele Liederbücher anderer Herausgeber. "Strampedemi"
bzw. "Spinnerin Lob und Dank" geben Burschen bzw. Mädchen
wertvolle Lieder an die Hand. Den größten Erfolg erlangt Walther
Hensel mit dem "Singenden Quell", einem Büchlein mit
bewußt kleiner Liedauswahl und improvisierten zweistimmigen Sätzen.
Alle diese Werke weisen Walther Hensel als einen unermüdlichen Sammler
von Volksliedern aus. Dabei stellt er neben den reichen Schatz an Liedern
seiner engeren Heimat, den er zum größten Teil von seiner Mutter
übernimmt, auch Lieder aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, besonders
auch aus den Sprachinseln im Osten und Südosten. Seine eingehende Kenntnis
des slawischen, französischen, ja auch finnischen Liedgutes macht ihn
fähig zu vergleichender Volksliedforschung, zur Übersetzung sogar
fremdsprachiger Mundartlieder. Walther Hensel kennt sich schließlich
in 26 Fremdsprachen aus. Unter seinen nicht veröffentlichten Aufzeichnungen
gibt es ein "Europäisches Liederbuch" - damit war er
seiner Zeit weit voraus und damals schon Repräsentant europäischen
Geistes.
In seinem wichtigsten musiktheoretischen Buch "Auf den Spuren des
Volksliedes" äußert er sich auch zur Satzkunst. Er meint,
daß der vierstimmige Satz einer Feierstunde als festliche Krönung
vorbehalten bleiben möge. Hohe Wertschätzung bringt er der Sprache
und deshalb dem einstimmigen Gesang entgegen. Als Chorleiter soll er nach
der Probe eines mehrstimmigen Liedes einmal gesagt haben: "Einstimmig
müßt' das noch viel besser klingen - aber das ist wohl zu schwer
für Euch."
Walther Hensel ist seines Zeichens Germanist, von Geblüt aber Musiker.
So kann er umfassender die Werte im Volkslied aufzeigen als Herder und
Uhland, seine großen Vorgänger in der Volksliedkunde, die
vor allem das Dichterische darin erschlossen hatten. Und er ist nicht nur
Sammler von Volksliedern, wie z.B. die Sudetendeutschen Horntrich und
Jungbauer, die etwa 26000 Lieder zusammengetragen hatten. Walther Hensel
hingegen bringt das Volkslied, mit den feinen Mitteln des Restaurators
gereinigt, dem Menschen wieder nahe:
In der Wertung
hält Walther Hensel das "lineare" Lied des Mittelalters für
die Höchstform und nennt es "Wellentypus" (Typ A), da
die Melodie frei schwingen kann. - Der spätere, auf den Akkorden der
Kadenz wie auf Pfeilern ruhende "Girlandentypus" (Typ B)
stellt nach seiner Meinung bereits eine gewisse Verweichlichung dar. - Der
im 20. Jahrhundert vorherrschende "Typ C" (Beispiel Bänkelsängerlied)
und andere Verfausformen sind nach seiner Meinung zersungen und "von
Sentimentalität verseucht".
Zu den drei Typen gibt Walther Hensel folgende Beispiele an.
Typ A: |
Es sungen drei Engel ein süßen Gesang Christ ist erstanden Es ist ein Ros' entsprungen Es liegt ein Schloß in Österreich Nun laube, Lindlein, laube Trost die Bedrängten (Raphaelslied), hier als Hörprobe wiedergegeben. |
Typ B: |
Und in dem Schneegebirge Wach, Nachtigall, wach auf Es stand ein Lind im tiefen Tal Wenn alle Brünnlein fließen Es blies ein Jäger wohl in sein Hörn Grüaß di God, du Haslnußstaud'n Dort nieden in jenem Holze Stehn zwei Stern am hohen Himmel Ich ging durch einen grasgrünen Wald (Hörprobe). |
Typ C: |
Drei Lilien, drei Lilien Horch, was kommt von draußen rein Ich schieß den Hirsch im wilden Forst Nun ade, du mein lieb Heimatland Lustig ist das Matrosenleben Und der Hans schleicht umher. |
Auch wenn
wir heute eine Trennung und Wertung in dieser Strenge nicht mehr nachvollziehen,
das grundsätzliche Ziel von Walther Hensel, "dem Schwund der kulturellen
Substanz Einhalt zu gebieten", gilt nach wie vor.
Die Jahre 1923 bis 1933 zählen zu den glücklichsten im Leben von
Walther Hensel. In dieser Zeit geht sein Wirken weit über die Grenzen
Deutschlands hinaus, sogar in Südafrika gibt es Singwochen henselscher
Prägung. - Bis 1925 lebt er in Prag, dann wird er als Leiter der
städtischen Jugendmusikschule nach Dortmund berufen und arbeitet
erfolgreich im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Im Jahre 1930
geht er nach Süddeutschland, vornehmlich nach Stuttgart, wo er
das Singen an der Volkshochschule leitet.
Daneben ist er unermüdlich unterwegs bei Singwochen als strenger, manchmal
polternder Chorleiter. Doch auf der anderen Seite zeigt er sich in kindlicher
Einfachheit und kann sich über harmlose Spaße von Herzen freuen.
Ein Teilnehmer erzählt:
Einmal stand Walther Hensel neben einer musizierenden Gruppe, zu der sich
gerade ein Flötist gesellt hatte, und sinnierte laut vor sich hin "Horch,
der Flöte Geisterklang...". Da der Flötist, ein Anfänger,
im Tempo nicht mitkam, ergänzte der neben Walther Hensel stehende Werner
Gneist
"Horch der Flöte Geisterklang
bewegt sich hier im Kleistergang",
was Walther Hensel über alle Maßen belustigte.
Ein andermal
hatte der Chor zu singen "...da wohnet mein Lieb". Nun ist "i"
als letzter Vokal nicht leicht zu singen, und Hensel grollte: "Das Liebchen
nicht quetschen!!" - Schmunzeln, Kichern, wachsende Heiterkeit im Chor.
Doch erst, als man ihn auf seinen unfreiwilligen Ausspruch hinwies, lachte
er herzlich mit.
Nach dem Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich kehrt Walther
Hensel 1938 von Stuttgart in seine Heimat zurück und läßt
sich mit seiner zweiten Frau Paula Wimmer (sie stammt aus Wasserburg
am Inn) in Teplitz/Nordböhmen nieder.
Unter dem Hitler-Regime wird seine Arbeit durch viele Auflagen erschwert.
Die Kampf- und Stampflieder der SA und der Hitlerjugend sind ihm ein Greuel,
sind das Gegenteil von dem, was er mit der inneren Erneuerung des Volkes durch
das Lied anstrebt. Von seinem Mut zeugt die geäußerte Feststellung,
das Horst-Wessel-Lied sei musikalisch wertlos.
Seine bereits erwähnte Volksliedkunde "Auf den Spuren des Volkslieds"
wird kurz nach Erscheinen verboten, da sie ein der Parteiführung nicht
genehmes Vorwort enthält. Aber auch in der geänderten Fassung schreibt
Walther Hensel noch: "... im übrigen kann man mir nicht zumuten,
das Gegenteil von dem zu schreiben, was meine Überzeugung ist...".
Wir sehen Walther Hensel 1943 nochmals in Prag, wo ihm die philosophische
Fakultät der Karls-Universität für seine wissenschaftlichen
Leistungen den Eichendorff-Preis verleiht. Zur gleichen Zeit erhält er
vom Deutschen Ministerium in Prag den Auftrag zur Erforschung des deutschen
und slawischen Volkslieds im böhmisch-mährischen Raum.
1945 teilt er das Schicksal seiner Landsleute, die aus ihrer Heimat vertrieben
werden. Er findet sich mit seiner Frau und dem noch nicht 5-jährigen
Töchterchen Hildegard aus zweiter Ehe in Landshut wieder, völlig
mittellos. Noch schwerer wiegt, daß sein ganzes wissenschaftliches Material
und seine wertvolle Sammlung von Instrumenten in Böhmen geblieben sind.
Diesen Schlag hat Walther Hensel nie überwunden.
Dennoch bleibt er aktiv:
1946 | Uraufführung seiner "Erntekantate" |
1947 |
Singabende mit der VHS München Beginn einer Wanderlehrertätigkeit im Auftrag des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege Abfassung einer Harfenschule für seine Tochter Hildegard |
1948 |
Singwoche auf Gut Waitzacker bei Weilheim mit 5 mal so viel Anmeldungen wie Unterbringungsmöglichkeiten Berater für das Volksliederarchiv der Münchener Städtischen Musikbibliothek |
1950 | Singwoche in Neßlau/Schweiz |
1950 | Herausgabe des Liederbuches "Unser Land im Lied" |
1950 bis 1953 | Vorlesungen über Kirchenmusik, speziell Choräle |
1951 und 1952 | Vortrag, Singwoche, Liederabende in Schweinfurt |
1953 bis 1955 | Singwochen in Schloß Gaibach/Mainfranken, in Toggenburg/Schweiz, Pleystein/Oberpfalz, Winnenden bei Stuttgart, Waiblingen, Eßlingen, Karlsruhe, Waldkraiburg |
Mit dem Erhalt
der musischen Substanz will Walther Hensel "dem verlorenen Land eine
Heimstatt im Herzen bereiten" und er beklagt sich bitter über die
mangelnden Aktivitäten der Vertriebenen in der Volksliedpflege.
Hunger und die Kälte der ungeheizten Wohnung in München schwächen
seinen Körper. Die Angebote von Freunden, die ihm helfen wollen, scheitern
meist an seiner unnachgiebigen, immer mehr die Realitäten verkennenden
Haltung. So wird es immer stiller um ihn.
Die Verleihung des Sudetendeutschen Kulturpreises zu Pfingsten 1956 durch
Lodgman von Auen bringt seinen Namen noch einmal vor die große Öffentlichkeit.
- Doch noch im selben Jahr, am 5. September 1956, stirbt Walther Hensel nach
einem Schlaganfall in einem Münchener Krankenhaus.
Sein 69. Geburtstag, der 8.9.56, wird zu seinem Begräbnistag. Auf ^ einem
Blatt zum Totenandenken stehen die ersten Worte aus dem "Reisesegen",
den er 30 Jahre zuvor im slowakisch-mährischen Gebiet aufgezeichnet und
ins Deutsche übertragen hatte:
Will in Gottes Nam
meine Fahrt anheben
und mich in seinen Schutz
ganz und gar begeben.
Wir sind
beim dritten Teil dieser Abhandlung: Was ist von Walther Hensels Leben und
Werk geblieben?
Nur wenige äußeren Dinge sind es, die an diese bedeutende
sudetendeutsche Persönlichkeit erinnern. Sein Grab am Münchener
Waldfriedhof liegt, symbolhaft für Hensels Bescheidenheit im Leben, abseits
vom Hauptweg unter hohen Bäumen, das schmiedeeiserne Kreuz muß
mit offenen Augen gesucht werden.
Nur eine Atelier-Fotografie ist von Walther Hensel erhalten und nicht
eine einzige Tonbandaufnahme, Ausdruck seiner Distanz zu jeder mechanischen
Wiedergabe.
Auf Schloß Waldeck im Hunsrück haben die Nerother Wandervögel
allen Führern der Jugendbewegung in einem Hain Gedenksteine errichtet,
neben Walther Hensel findet man hier die Namen von Hans Breuer, Fritz Jode
und Richard Poppe.
Eine ausdrucksvolle Bronze-Büste Walther Hensels fertigte seine Tochter
Hildegard. Sie wurde Bildhauerin, heiratete 1967 den Oberstudienrat Frank
Skasa-Weiß und lebte mit ihm und ihren drei Kindern zuletzt in Ohlstadt
bei Murnau. Nach einem sehr aktiven Leben, das sie zuletzt gesundheitlich
überforderte, ist Hildegard am 14.12.1992, erst 52 Jahre alt, gestorben.
Noch am 2.9.1.992 hatte Hildegard Hensel in Teplitz zum 105.Geburtstag ihres Vaters eine Gedenktafel enthüllt.
Die Grund- und Hauptschule in Göppingen, Patenstadt der Schönhengster, trägt den Namen von Walther Hensel und zwei Straßen in der Bundesrepublik sind nach ihm benannt.
So bescheiden die sichtbaren Erinnerungen, so großartig ist Walther Hensels geistiges Erbe, sein Einfluß auf die Singbewegung, der bis heute nachwirkt.
An erster Stelle sind wohl die durch ihn allgemein zugänglich gewordenen Lieder zu nennen, die er mit feinem Gespür für das Echte auswählte, singbar machte und erläuterte. Viele davon werden heute in ganz Deutschland und jenseits der Grenzen gesungen. Einige Beispiele mögen für viele andere stehen:
Auf, du junger Wandersmann,
Jetzt fahr'n wir übern See
Auf, auf, ihr Wandersleut
Im Märzen der Bauer
Jetzt kommt die Zeit, daß ich wandern muß
Auf, auf zum fröhlichen Jagen
Im Frühtau zu Berge
Kein schöner Land in dieser Zeit.
Auf breiter Basis wirkt auch die Idee von Walther Hensel nach, sich für die Dauer einer ganzen Woche gemeinschaftlich zum Singen, Tanzen und Musizieren zu treffen. Allein in Deutschland werden derzeit Hunderte von musischen Wochen veranstaltet. Die umfangreichen Jahresprogramme des "Arbeitskreises für Musik in der Jugend" und des "Internationalen Arbeitskreises für Musik" sprechen für sich.
Fruchtbare Wirkungen ergaben sich aus Walther Hensels Kontakt und die Auseinandersetzung mit anderen Chorleitern und Komponisten, z.B. mit Fritz Jöde in Norddeutschland oder mit dem Schlesier Werner Gneist, der vielfache Anregungen zur Singwochenarbeit erhielt. Auch Hans Klein aus Jägerndorf/Sudetenschlesien arbeitete im Sinne von Walther Hensel und machte sich als Wiedererwecker des Oberuferer Christgeburtsspiels einen Namen. Dieses Spiel ist in das Brauchtum der Anthroposophen eingegangen.
Auch die in jüngerer Zeit immer mehr aufkommenden Passionssingen profitieren von Hensels Sammeltätigkeit. Das berühmte Pilatuslied aus dem Sorger Passionsspiel, in Kärnten aufgezeichnet, wird meist in seinem Satz gesungen, ebenso das bereits erwähnte Lied "Es sungen drei Engel ein süßen Gesang", dessen Strophen bis ins 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen sind.
Zahlreiche Volkstänze, die heute zum selbstverständlichen Tanzgut gehören, gehen auf die Finkensteiner Tradition zurück.
Auch Volksmusik-Wettbewerbe und Preissingen waren Idee von Walther Hensel, der sich bereits 1923, gemeinsam mit Kiem Pauli, in einem eigenen Büchlein mit deren Durchführung befaßt hatte.
Die lebendigsten und eindrucksvollsten Beispiele für das Weiterwirken henselscher Singwochentradition in verschiedenen Ausprägungen sind die nach dem zweiten Weltkrieg in Österreich und Deutschland erfolgreich tätigen Spielscharen. Von einigen kann ich aus persönlichem Erleben berichten.
Zu den Männern,
die unmittelbar nach Kriegsende das Finkensteiner Erbe mit Leben erfüllten
und weiterentwickelten, gehörte Hermann
Derschmidt aus Wels/Oberösterreich. Bei seinen Almsingwochen wurde
viel im Freien gesungen und getanzt. Gleichberechtigt lehrte er Liedgut aus
dem gesamten deutschsprachigen Raum neben den für das Alpenvorland typischen
Jodlern, die in die Stille der Almregion weit hinausklangen. - Dreimal jährlich
lud die "Welser Rud" zu Volkstanzfesten ein, bei denen sich
mehrere Musiziergruppen abwechselten. Der Auftanz mit über hundert Paaren
in Tracht war, von der Galerie des Saales aus betrachtet, allein optisch ein
Erlebnis.
Fachlehrer Siegfried Knirsch, schon in seiner Heimat Mährisch Schönberg unter dem Namen "Vati Knirsch" bekannt, lud 1948, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft, zu einer Singwoche nach Reit im Winkl/Oberbayern ein, der 14 weitere folgten. Die Begeisterung der Teilnehmer ließ damals alle äußere Not vergessen: Man schlief auf Stroh und verpflegte sich durch mitgebrachte Kartoffeln. Man sang Werke aus verschiedenen Epochen und beherrschte die auf Plakatpapier geschriebenen Lieder sehr schnell auswendig. - Vati Knirsch verstand es, die strenge Musikalität henselscher Prägung mit der überschäumenden geselligen Liedpflege des bayerischen Landes zu verbinden. Sein häufiger Gesprächspartner war Wastl Fanderl, damals noch am Beginn seiner Laufbahn als bekannter bayerischer Volksmusikpfleger.
Zu Pfingsten 1952, also ebenfalls bald nach Kriegsende, wurde die "Südmährische Sing- und Spielschar" in Stuttgart gegründet. Unter ihrem Leiter Hans Proksch gedieh sie schnell zu hoher musikalischer Qualität. Als "Botschafter des Friedens" wurde sie als erste deutsche Spielschar nach dem Krieg zu mehrwöchigen Fahrten nach Finnland und nach Norwegen entsandt. Bei langen Abendprogrammen unter freiem, hellem Himmel schloß man herzliche Freundschaft mit den dortigen Volkstums-Gruppen. - Neben der Pflege des südmährischen Volksliedes wurden von der "SSS" inzwischen mehrere neu entstandene Werke, komponiert von Widmar Hader, dem Leiter des "Sudetendeutschen Musikinstitutes", aufgeführt.
In Stuttgart hatte nicht nur Walther Hensel gewirkt, auch seine erste Frau war dort noch bis in die 70er Jahre als Stimmbildnerin in enger Zusammenarbeit mit der "Walther-Hensel-Gesellschaft" tätig. Diese im Jahre 1961 gegründete Vereinigung hat sich in der ersten Zeit ihres Bestehens vor allem um den Neudruck der vergriffenen Liederbücher von Walther Hensel bemüht. Seit vielen Jahren von Herbert Preisenhammer mit Geschick und Fleiß geleitet, ist sie Plattform für zahlreiche Wochenendsingen, Singwochen und Gemeinschaftsreisen. Im Rahmen der "Arbeitsgemeinschaft der Sing-, Tanz und Spielkreise in Baden-Württemberg" hat Herbert Preisenhammer, selbst Komponist, das musikalische Leben in Stuttgart mitbestimmt und z.B. eine Tradition des (zuvor hier unbekannten) Adventssingens eingeführt.
Enger Kontakt
wird von Herbert Preisenhammer zur Heimatstadt von Walther Hensel, Mährisch
Trübau, gehalten. Hier gibt es seit einigen Jahren das vom tschechischen
und deutschen Staat gemeinsam finanzierte "BegegnungsZentrum Walther
Hensel" im Gebäude des Holzmaister-Museums. - Bei Singwochen-Abschlußkonzerten
im Begegnungszentrum waren nicht nur die Teilnehmer um Herbert Preisenhammer,
sondern auch die Gäste tschechischer und deutscher Zunge vom festlichen
Rahmen und von dem wieder zum Leben erweckten Volksliedschatz beeindruckt.
Das Erbe
von Walther Hensel lebt in reicher Form auch in der (noch von ihm selbst mitbegründeten)
Schönhengster Spielschar, im Iglauer Singkreis, in der
Spielschar Sudetendeutscher Erzieher und in vielen anderen Spielscharen,
Sing-, Tanz- und Musizierkreisen
weiter.
Daß das Wirken dieser aus der Singbewegung schöpfenden Gemeinschaften nicht erstarren möge, sondern auch Neuem aufgeschlossen bleibe, war ein Anliegen von Walther Hensel während seiner letzten Singwoche in Waldkraiburg. Seine Worte haben ihre Gültigkeit bis heute behalten:
"Werdet keine Nur-Finkensteiner, keine Romantiker!27. Juli 1998
Die Tradition wird untergehen, aber wir müssen
über den Abgrund weg zur Zukunft schauen.
Es gilt, aus der Überlieferung das Zeitlos-Menschliche
in die neuen Verhältnisse mitzunehmen."
Hinweis: Wer nähere Informationen über die oben erwähnten Spielscharen, Sing-, Tanz- und Musizierkreise einholen möchte oder evtl. vorhat, sich einer dieser Gemeinschaften anzuschließen, kann entsprechende Kontaktadressen bei mir erfragen.