Dr. Hans Klein:*)
Professor Dr. Hauffen,
der Inhaber der Lehrkanzel für Volkskunde an der Deutschen Universität
Prag, hielt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in den Versammlungen des
Deutschen Sprachvereins, dessen Vorsitzender er war, regelmäßig
Vorträge aus seinem Fachgebiet. An einem solchen Vortragsabend erläuterte
er seine Ausführungen durch Musikbeispiele, indem er charakteristische
Weihnachtslieder aus dem Böhmerwald vortragen ließ. Er hatte zu
diesem Zweck die seiner Familie befreundete Prager Konzertsängerin Olga
Pokorny mit dem Germanisten und Volksliedforscher Dr. Julius Janiczek bekannt
gemacht, der sie auf der Laute begleiten sollte. Diese erste musikalische
Begegnung bedeutete für diese beiden eine Wende ihrer Lebenswege.
Julius Janiczek (geb. 1887), der später unter dem Namen Walther Hensel
als Musikerzieher, Volksliederneuerer und Begründer der Finkensteiner
Singbewegung einen gesamtdeutschen, ja europäischen Ruf gewann, war 1911
aus Freiburg in der Schweiz, wo er bei Prof. Dr. Primus Lessiak mit einer
Dissertation über den Vokalismus der Schönhengster, seiner heimatlichen
Mundart, den Doktorgrad erworben hatte, nach Prag zurückgekehrt und wirkte
damals als Lehrer für neuere Sprachen an der dortigen Deutschen Handelsakademie.
Neben seinem germanistischen und romanistischen Fachstudium hatten ihn aber
in Freiburg aufs stärkste die Vorlesungen und Übungen des berühmten
Choralisten Peter Wagner über mittelalterliche Musik beschäftigt.
Aus einer seit Generationen musikalisch interessierten und Musik treibenden
Mährisch-Trübauer Familie stammend, hatte er schon in seinen ersten
Semestern in Wien bei Professor Grädener Harmonielehre und Kontrapunkt
studiert. Das entscheidende Erlebnis jener Jahre vor dem Ersten Weltkrieg
aber war in positivem wie in negativem Sinne der "Zupfgeigenhansl"
Hans Breuers, der nach Herders und der Romantiker literarischer Volksliedentdeckung
und nach Uhlands wissenschaftlicher Volksliedforschung die dritte Volkslied-Renaissance
einleitete: die Wiedergeburt des Volksliedsingens als leben- und gemeinschaftsformendes
Tun.
Breuer hatte seinen Wandervögeln den Weg vom heutigen Gebrauchslied -
auf Fahrt, in der Herberge, beim Lagerfeuer - zum künstlerisch wertvollen
Volkslied gewiesen und die kostbarsten Schätze aus der Zeit seiner Hochblüte,
vor allem aus dem 16. Jahrhundert, zum erstenmal wieder zum Klingen gebracht
- nicht auf Konzertpodien vor passiven Hörern, sondern im Kreis junger,
von einem neuen Lebensgefühl erfüllter Menschen: das war sein unbestreitbares
Verdienst; daß er seine Freunde aber nur zu den linearen alten Weisen,
nicht aber zu den ihnen wesensgemäßen polyphonen Sätzen führte,
sondern sich mit akkordischer Gitarrenbegleitung begnügte, das war seine
zeitbedingte Unvollkommenheit, an deren Überwindung ihn sein früher
Tod im Ersten Weltkrieg hinderte.
Daß das Volkslied-Erlebnis jener Jahre für Hensel lebensbestimmend
wurde, hatte zwei Gründe.
Erstens stammte er selbst aus einer Familie von "Volksliedträgern".
Waren sein Vater und dessen südmährische Vorfahren seit altersher
tüchtige Instrumentalisten, so hütete die Mutter einen reichen Schatz
aus ihrem Elternhaus ererbter Lieder in ihrem treuen Gedächtnis und war
ihrem Sohn die erste Quelle, als dieser im Trübauer Gymnasium von seinem
Deutschlehrer Dr. Spina angeregt worden war, im volkskundlich so ergiebigen
heimatlichen Schönhengstgau auf Volksliedersuche zu gehen. In Wien war
er mit dem Kreis um den großen alpenländischen Volksliedersammler
Josef Pommer in persönliche Fühlung gekommen, und auch sein Freiburger
Lehrer Dr. Lessiak gehörte diesem Kreise an. Durch Lessiaks Vermittlung
unternahm Hensel 1912 und 1913 im Auftrag der Staatlichen Österreichischen
Volksliedkommission zwei Sammelfahrten nach Kärnten, von denen er eine
reiche Ernte heimbrachte.
Doch schon die Frucht dieser beiden Fahrten: die zwei Hefte "Deutsche
Liedlein aus Österreich" (1913 und 1917 bei Hofmeister in Leipzig
erschienen) zeigt den zweiten Aspekt seiner Einstellung zum Volkslied. Das
bloße Sammeln, das in immer größerem Umfang und immer strafferer
Zentralisierung zu dem imposanten Freiburger Volksliederarchiv John Meiers
führte, genügte weder der künstlerischen noch der volksbildnerischen
Seite seines Wesens. Ihm war es um mehr zu tun als um eine museale Konservierung
des kostbaren Volksgutes und um eine musikwissenschaftliche Erforschung. "Gebt
dem Volk sein Lied wieder, das entschwindende, und ihr gebt ihm seine Seele
wieder!" Dieses Wort Roseggers deutet die Richtung seines Wollens an,
das ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg angesichts der Entseelung weitester
Volksschichten erfüllte, das ihm aber nach dem Zusammenbruch Österreichs
und der zwangsweisen Eingliederung der Deutschen Böhmens, Mährens
und Schlesiens in einen slawischen Nationalstaat zur volksbildnerischen Pflicht
wurde.
Das verstummte sudetendeutsche Volk zum Singen und damit zum Bewusstwerden
seiner geistigen Substanz zu erwecken, das war fortan sein Leitgedanke.
Damals schloß er den Ehebund mit Olga Pokorny und trat aus dem Schuldienst
aus, um sich mit seiner Gattin, die ihre Gesangstudien in Prag, Wien und Leipzig
absolviert und in Prag seinerzeit die ersten Jugendkonzerte veranstaltet hatte,
ganz dem neuen Lebensziel zu widmen. Walther und Olga Hensel begannen mit
gemeinsamen Liederabenden, in denen alte und neue Volkslieder im Einzel- und
Zwiegesang zur Laute erklangen - planmäßig bereiste man die sudetendeutschen
Landschaften, und bald erfolgten Einladungen ins Ausland. Aber so herzlichen
Beifall und Dank diese Abende auch überall fanden, sie bewirkten doch
nicht das, was mit ihnen bezweckt war: ein neu anhebendes Singen im Volke
selbst.
Es waren die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, als die alten österreichischen
Kulturorganisationen zerfallen waren und ihr neuer Aufbau in den Sudetenländern
den neuen staatlichen Gegebenheiten angepaßt werden mußte. In
zahllosen Tagungen berieten geistige Arbeiter die neuen Aufgaben. Der Gedanke,
nach dem Verlust unseres politischen Einflusses nunmehr den geistigen Grundlagen
unseres Volkstums erhöhte Aufmerksamkeit und Pflege zuzuwenden, erfüllte
vor allem den "Böhmerland"-Kreis: einen Kreis von Volksbildnern,
die für eine Vertiefung der Heimatbildung eintraten, für die Erhaltung
wertvollen Brauchtums und alter Sitte, für eine geistige Weiterführung
der schulentwachsenen Jugend nach dem Vorbild der nordischen Volkshochschulen
u. a. - mit einem Wort: die den Verlust an politischer Macht durch eine verstärkte
Pflege der kulturellen Güter wettmachen wollten, um unser Volk auch unter
den neuen schwierigen Verhältnissen gesund und produktiv zu erhalten.
Vorträge und Diskussionen erfüllten diese Tagungen, die als "Böhmerland-Wochen"
Volkserzieher aller politischen Richtungen in der gemeinsamen Sorge vereinten,
und da sie von zahlreichen der Jugendbewegung entwachsenen Menschen besucht
und mitgeprägt wurden, erklang auch bald das gemeinsame Lied am Morgen
und am Abend, dem wechselnden Tagesinhalt einen festen Rahmen gebend und den
in Redekämpfen und Meinungsstreiten entzweiten Gemütern mit einem
Schlage ihre Gemeinsamkeit zum Bewußtsein bringend. Walther Hensel gab
diesem Singen mit immer neuen Liedern und immer anspruchsvollerer Mehrstimmigkeit
stetig neuen Stoff. Die künstlerisch dem Stil der jeweiligen Melodien
entsprechenden Sätze erforderten eine neue Einstellung zum Chorsingen
-, die Probleme homophoner und polyphoner Satzweise, linearer oder aus der
Kadenz abgeleiteter Melodik, instrumental begleiteten oder reinen a-cappella-Gesanges,
ebenso die Einsicht, daß ein reiner, einheitlicher Chorklang nur aus
gründlicher Stimmschulung erwachsen könne: all das brachte die Stimmbildnerin
Olga Hensel auf den Gedanken, einmal einen Lehrgang nach Art der Böhmerlandwochen
allein dem Singen zu widmen, nur in umgekehrter Form: die praktische musikalische
Arbeit sollte den Hauptanteil ausmachen, die Erörterung theoretischer
Fragen in die nötigen Pausen verlegt werden. Und so kam es im Sommer
1923 zur ersten Singwoche in Finkenstein bei Mährisch Trübau, die
ihren 80 Teilnehmern zu einem unvergeßlichen Erlebnis und zu einem richtungweisenden
Impuls wurde.
Aus unseren sudetendeutschen Sorgen und Nöten war sie erwachsen. Daß
sie aber eine fast unübersehbare gesamtdeutsche und europäische
Nachfolge finden sollte, das ahnten wir damals nicht.
Einer ihrer Teilnehmer, ein junger Augsburger Buchhändler namens Karl
Vötterle, der eben im Begriff war, einen Verlag zu gründen, schlug
Hensel eine periodische Denkschrift vor, die allmonatlich erscheinen und das
Organ für Walther Hensels Liedveröffentlichungen werden sollte.
So entstanden die "Finkensteiner Blätter", die von 1923 bis
1933 erschienen und in ihrer Gesamtheit heute die innere Entwicklung der Finkensteiner
Singbewegung spiegeln; sie wurden zum Grundstock des heute weltweit wirkenden
Bärenreiter-Verlages in Kassel.
Ein anderer, Studienrat Richard Poppe aus Waldenburg in Schlesien, lud Hensel
noch im gleichen Sommer 1923 zu einer Singwoche nach der Herrnhutersiedlung
Gnadenfrei ein; dorthin hatte er zahlreiche Jugendpfleger und Erzieher aus
allen Schulgattungen, geistliche und weltliche, gerufen. Die Intensität
der musikerzieherischen Arbeit, in die sich Walther Hensel als Chorleiter
mit Olga Hensel als Stimmbildnerin teilten, überzeugte diesen Teilnehmerkreis
derart von dem volksbildnerischen Wert der Singwoche, daß von nun an
Einladungen nach allen Teilen Deutschlands, ja über dessen Grenzen hinaus
nach Österreich, der Schweiz, nach Holland, Dänemark und Finnland
erfolgten. Um dem bis 1933 stetig steigenden Bedürfnis nachzukommen,
wurden Schüler Walther Hensels zur Leitung solcher Wochen herangezogen,
so vor allem Adolf Seifert (Asch) und Oskar Fitz (Wien).
Als Organisationsform dieser weitverzweigten Arbeit entstand zuerst 1924 der
sudetendeutsche "Finkensteiner Bund", ein Jahr später folgte
der reichsdeutsche gleichen Namens, der 1934 der Uniformierung des Geisteslebens
im "Dritten Reich" zum Opfer fiel; der sudetendeutsche bestand bis
1938. Wichtiger und dauerhafter als diese Vereinsgründungen aber war
der lebendige Zusammenhalt der ehemaligen Singwochenteilnehmer in ihren heimatlichen
Singkreisen und Singgemeinden. Immer neue geistige Nahrung boten ihnen Hensels
Veröffentlichungen - außer dem Liedgut der "Finkensteiner
Blätter" die theoretischen Aufsätze in der "Klingenden
Saat", einer Beilage der Zeitschrift "Lied und Volk", seine
"Musikalische Grundlehre" und endlich das wichtigste seiner Bücher,
seine "Kleine Volksliedkunde - Auf den Spuren des Volkslieds" (sämtliche
im Bärenreiter-Verlag Kassel).
Walther Hensel selbst, der sich seit 1938 infolge des veränderten geistigen
Klimas in zunehmendem Maße von der Öffentlichkeit zurückzog,
wurde zwar im Jahre 1941 von der Philosophischen Fakultät der Prager
Deutschen Universität mit dem Eichendorff-Preis ausgezeichnet, doch hat
er weder vor noch nach 1945 mehr größere musikalische Arbeiten
veröffentlicht. So schmerzlich ihn, den dadurch völlig Verarmten,
das Los der Vertreibung aus der Heimat getroffen hatte, so hat er doch bis
zu seinem allzu frühen Tode im Jahre 1956 ununterbrochen weiter wissenschaftlich
und künstlerisch gearbeitet. Schwer durchschaubare Hemmungen hielten
ihn jedoch immer wieder von der Drucklegung ab, und so harrt heute ein umfangreicher
schriftlicher Nachlaß der Veröffentlichung. Ein letzter Lichtblick
war die Verleihung des Sudetendeutschen Kulturpreises wenige Monate vor seinem
einsamen Tode.
So stark aber haben das Finkensteiner Liedgut und das neue Chorsingen die
Gemeinschaft der Singenden geprägt, daß sie nach 1945, in alle
Windrichtungen zerstreut, bald wieder Fühlung miteinander suchten und
sich landschaftsweise zu Singtreffen vereinten. Ein solcher Kreis hat in München-Gräfelfing
im Herbst 1961 die "Walther-Hensel-Gesellschaft" gegründet,
um die seit 1934, bzw. 1938 nicht mehr aufgelegten Liederbücher Hensels
"Der singende Quell", "Das Aufrecht Fähnlein", "Wach
auf: Festliche Weisen" sowie die beiden Bände des "Finkensteiner
Liederbuchs" durch Neudruck wieder zugänglich zu machen, denn diese
Bücher sind heute genau so bahnbrechend und wegweisend wie einst und
haben gerade in unserer heutigen chaotischen Zeit die Aufgabe, die Menschen
zu sammeln, die den Glauben an die zeugende Kraft des Volksgeistes nicht verloren
haben.
"Die Musik ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich; man vergißt dabei alles Zornes, Unkeuschheit, Hoffahrt und anderer Laster. Ich gebe nach der Theologie der Musika die nächste Stelle und höchste Ehre."
Dr. Martin Luther
*) Aus der Zeitschrift "Sudetenland" mit Genehmigung des Verlags.